Das orthodoxe Stundengebet

 

Das orthodoxe Stundengebet

 

 

Thomas Zmija v. Gojan

 

Das Stundengebet, auch Gebet der Tageszeiten genannt, ist die Antwort der Kirche auf die Aufforderung des heiligen Apostels Paulus an die Gläubigen: „Betet ohne Unterlass“ (1. Thessalonicher 5:17). Bereits die alttestamentliche Kirche kannte für die Abfolge der Gottesdienste im Jerusalemer Tempel fünf Gebetszeiten, wobei die Gebete am Morgen und am frühen Abend eine besondere Bedeutung besaßen. Noch heute beten wir mit den Lobpsalmen ("Alles was Odem hat, lobt den Herrn" = Psalmen 148-150)  und der Großen Doxologie in der Utrenja (Morgengottesdienst) und mit den Luzernarpsalmen (Psalm 140 & 141) und der abendlichen Doxologie in der Vecernja (Abendgottesdienst/ Vesper) wichtige Teile aus der Jerusalemer Tempelliturgie. Seit der Zeit des babylonischen Exils war auch private regelmäßigen täglichen Gebet an jeden Morgen und Abend fest im Leben der alttestamentlichen Gottesfürchtigen verankert, so dass der heilige Prophet König David sagt: „Siebenmal am Tag singe ich Dein Lob und nachts stehe ich auf, um Dich zu preisen“ (vgl. Psalm 118: 62 und Psalm 163). Aus den heiligen Evangelien wissen wir, dass auch unser Herr Jesus Christus und die heiligen Apostel regelmäßig am Morgen und am Abend beteten, sowie am Gottesdienst im Tempel und in den Synagogen teilnahmen (zum Beispiel bei Lukas 4: 16). Außerdem hat unser Herr Jesus Christus immer wieder die frühe Morgenstunde und die nächtliche Stunden rund um Mitternacht dazu genutzt, sich zum Gebet zurückzuziehen (vgl. Matthäus 5:26, 36; Lukas 9:18, 22:39-46 und viele andere Stellen mehr).

 

 

So war das Leben des Herrn, der nicht nur vollkommener und wahrer Gott, sondern auch vollkommener und wahrer Mensch ist, in der Zeit Seines Erdenlebens vom siebenfachen Gebetsrythmus des alttestamentlichen Gottesvolkes erfüllt. Dies war damals nichts Außergewöhnliches, sondern Ausdruck des religiösen Lebens aller Frommen im Volke Israel. Das Gebet Israels speiste sich besonders aus den Gebeten und Hymnen der Psalmen, die Christus gegenüber den Schriftgelehrten und Pharisäern immer wieder auf sich selbst bezog (Zu den prophetisch auf das Kommen des Heilandes hinweisenden Psalmen gehört besonders der Psalm 22 (Psalm Psalm 22:2.8.16.19) aber auch die Psalm 2: 6–9 & Psalm 16: 10). Als nach der Himmelfahrt des Herrn und dem Kommen des Heiligen Geistes zu Pfingsten die Apostel die Fülle des in Christus gekommenen Heiles zu begreifen begannen, entstand mit der christlichen Kirche des neuen Bundes auch das ein genuin christliches Beten. Die heiligen Apostel bereicherten das überkommene alttestamentliche Gebetsgut durch christologische Hymnen (vgl.: Kolosser 1,15-20; Epheser 1: 3-14; 1. Korinther 15: 35-49), vor allem aber verstand die vom Wirken des Heiligen Geistes erfüllte junge Kirche die Worte des Buches der Psalmen nun als von Christus gesprochenes und Ihn verkündendes Glaubensgut.

 

Das zentrale Moment allen christlichen Betens wurde aber das Gebet des Herrn, das „Vater Unser“, das den Dank und Lobpreis gegenüber Gott dem Vater mit zentralen menschlichen Bitten verbindet. Dieses Gebet ist der Herzschlag und Wesenskern allen christlichen Betens, hat doch der Herr Selbst es Seine Apostel und Jünger zu sprechen gelehrt (Lukas 11: 1-4). Seit der Gründung der Kirche durch Christus selbst bis heute gibt es keine christlich-orthodoxe Gebetszeit, in der wir nicht das Gebet des Herrn sprechen. 

 

 

In apostolischer und nachapostolischer Zeit entfaltete sich das christliche Beten immer weiter, wobei es gleichzeitig die mündlichen Anordnungen der heiligen Apostel, die Heilige Apostolische Tradition treu bewahrte. Um diesen Kern entwickelte sich im Laufe der kommenden Jahrhunderte die christlich-orthodoxe Gebetsordnung, wobei weitere Gebete durch die Heiligen dem apostolischen Kern der Gebetsordnung hinzugefügt wurden. So stammt zum Beispiel der Christus-Hymnus „Mildes Licht“ (griechisch: Φς λαρόν = „Phos Ilaron“ “, den wir noch heute in der Vecernja (Vesper) zu Einzug singen, in seiner heute überlieferten Textfassung bereits aus dem zweiten Jahrhundert. Jedoch ist der Hymnus weitaus älter, denn er wurde bereits von den christlichen Märtyrern in Rom während der neronischen Christenverfolgung gesungen. Andere Gebete und Hymnen stammen von den Heiligen Ephrem der Syrer, Johannes Chrysostomus und Basilius dem Großen, von den großen Hymnendichtern der byzantinischen Epoche, wie dem Heiligen Romanos dem Meloden und vielen anderen Heiligen unserer orthodoxen Kirche. Bis in unsere Tage hinein werden dem orthodoxen Gebetsschatz immer wieder neue Gebete (wie zum Beispiel das Gebet der heiligen Optina Starzen) hinzugefügt, ohne dass wir die älteren Gebete dabei vergessen. So spiegelt die Entwicklung der orthodoxen Gebetsordnung das beständige Wirken des Heiligen Geistes in der Geschichte der Kirche wieder. 

 

Wurden in der Frühzeit der Kirche die Gebetsordnungen noch auswendig rezitiert und entsprechend dem Empfinden des Beters oder des Liturgen auch erweitert und ergänzt, so fanden die Texte der orthodoxen Gebete zur Zeit der heiligen Basilius des Großen und Johannes Chrysostomus (Mitte des 2. Jahrhunderts) zu einer festgelegt und dann auch niedergeschriebenen Form. Orthodoxe Christen beten mit den Worten der orthodoxen Gebetsordnung, die sie im Gebetbuch oder dem Stundenbuch (griechisch: ρολόγιον = „Horologion“; slawisch: Часocлoвъ = „Časoslov“) finden, da sie mit den Worten der Heiligen und der orthodoxen Kirche beten möchten; jedoch eröffnet das persönliche und häusliche Gebet jederzeit auch Raum um Bitte, Lobpreis und Anbetung mit selbst formulierten Worten vor Gott bringen zu können.

 

 

Aus der Tradition des alttestamentlichen Gottesvolkes sich mehrmals am Tage zum Gebet zu versammeln, entwickelte sich in der apostolischen Kirche bereits eine Vorform des heutigen orthodoxen Stundengebetes. Diese Gebetszeiten wurden in der versammelten Gemeinde gemeinsam gebetet. Neben das Psalmengebet trat im christlichen Gottesdienst der christologische Hymnengesang. Ganz zentral war das gemeinsame Gebet des „Vater Unser“.

 

Diese apostolische Struktur des frühchristlichen Stundengebetes erscheint für uns deutlich erkennbar in den frühen überlieferten Kirchenordnungen wie der „Zwölf-Apostel-Lehre“ und den „Apostolischen Überlieferungen“. So kennen die „Apostolischen Überlieferungen“ aus dem 3. Jahrhundert bereits das Gebet der Gläubigen beim Aufstehen, zur dritten, sechsten und neunten Stunde, beim Sinken der Sonne (Hesperinos), beim Schlafengehen  (Apodipnon) um Mitternacht (Mitternachtsgebet) und beim ersten Hahnernschrei (Orthros). Eine ähnliche Gebetsordnung kennen wir auch aus den „Apostolischen Konstitutionen“ im 4. Jahrhundert.

 

 

Aus diesem Stundengebet in den christlichen Gemeinden entwickelte sich dann nach der konstantinischen Wende das "Kathedraloffizium“. Es war die Weiterentfaltung des einfachen Stundengebetes in den frühen christlichen Gemeinden in der Verfolgungszeit. Schon in den frühchristlichen Gemeinden war dieses gemeinsame Stundengebet die liturgische Grundform des kirchlichen Lebens, da es in der frühen Kirche die Feier der Göttlichen Liturgie nur an den Sonntagen gab. Nachdem die Kirche durch die Alleinherrschaft des Heiligen Apostelgleichen Kaisers Konstantin Ruhe und Frieden gefunden hatte, entfaltete sich von den frühchristlichen Bischofskirchen aus die Feier des Stundengebetes in nun ausgeprägten und feierlicheren Formen. Dabei versammelte sich die gesamte Gemeinde der Stadt zum Morgen- und Abendlob, während die kleineren Gebetszeiten meist von den Frommen, den ersten Asketen und dem Witwen- und Jungfrauenstand (1. Korinther 7: 25-38) gebetet wurden.

 

Typisch für das Kathedraloffizium war, dass es noch kein vollständiges Psalmengebet des ganzen Psalters kannte, sondern bestimmte Psalmen für die Gebetszeiten auswählte. So wurde etwa der Psalm 62 beim Morgen- und der Psalm  140 beim Abendlob der Gemeinde in antiphonischer Weise gesungen. In der damaligen Zeit tritt für das Morgen- und  Abendlob auch das feststehende Fürbittengebet hinzu, wie wir es noch heute bei Utrenja und Vecernja, aber auch der Feier der Göttlichen Liturgie als Ektenien kennen.

 

Die Vecernja entwickelte sich damals zur Luzernar- oder Lichtfeier, die Christus, das abendlose Licht verherrlicht. Zur Kathedralvesper gehörte das rituelle Entzünden des abendlichen Lichtes und die Darbringung des Weihrauchs zum Gesang von Psalm 140 („Aufsteige mein Gebet wie Weihrauch“). Ein kleines Stück der Kathedralvesper hat die Zeiten in der heutigen Liturgie der Vorgeweihten Gaben in Gestalt des Ritus des „Feierlichen Weihrauchopfers“ überdauert.

 

Im 3. Jahrhundert entwickelte sich aus einzelnen, damals noch in der Gemeinde lebenden Asketen sowie dem Witwen- und Jungfrauenstand langsam zuerst das anachoretische (Einsiedler-) Mönchtum und dann das konobitische (gemeinschaftliche Kloster-) Mönchtum. Von dieser monastischen Bewegung ging dann ein wesentlicher Einfluss auf die weitere Entwicklung des Stundengebets zu der uns heute bekannten Form aus.

 

Hatte das Stundengebet schon bei dem eremitischen Mönchtum des heiligen Antonius des Großen einen wesentlichen Teil des Tagesablaufes ausgemacht, weil die Eremiten im Gegensatz zum gemeindlichen Kathedraloffizium zwischen den einzelnen Gebetsstunden auch den gesamten Psalter zu beten pflegten (griechisch Μελέτη =Übung oder Praxis genannt), so wurde die Lesung des gesamten Psalters nun in in den Klöstern des heiligen Pachomios fest in die Gebetsordnung integriert. Der heilige Johannes der Römer (Johannes Cassian) berichtet uns aus Ägypten, das in den Klöstern Ägyptens in jeder Gebetszeit zwölf Psalmen von einem Lektor vorgetragen wurden. Auf jeden Psalm folgte eine Zeit des stillen Gebets im Stehen mit erhobenen Armen, gefolgt von einer Ekphonese, die  dann der Vorsteher sprach. Nach zwölfmaliger Wiederholung beschloss eine Schriftlesung aus dem Alten und Neuen Testament die einzelne Gebetszeit. Bei der nächsten Gebetszeit wurden dann die nächsten zwölf Psalmen in dieser Weise gesprochen, und nach dem Psalm 150 begann der Turnus wieder von vorn.

 

Bei dieser Form des gemeinschaftlichen monastischen Psalmengebetes werden die einzelnen Psalmen nicht aus inhaltlichen Gründen ausgewählt, sondern der gesamte Psalter wird als fortlaufende Lesung (lectio continua) gebetet. Aus dieser Art des Psalmengebetes entwickelte sich später die orthodoxe Tradition, in die Vecernja einen Abschnitt (Kathisma) der  fortlaufenden Psalmenlesung und in die Utrenja sogar bis zu drei Kathismen zu integrieren.

 

 

Die beiden liturgischen Formen des Stundengebetes, die monastische Klosterordnung und die gemeindliche Kathedralordnung dürfen wir uns jedoch weder als eine klar trennbare historische Abfolge, noch als schroffe Gegensätze vorstellen, denn schon bald gab es in den Städten des byzantinischen Reiches Stadtklöster, die dort das monastische Stundengebet vollzogen und auch an den in den byzantinischen Städten häufig anzutreffenden Privatkapellen und kleinen Familienkirchen gab es immer wieder Kreise von Frommen, die ganz bewusst Teile des monastischen Lebens und Betens in ihr eigenes Frömmigkeitsleben integrierten, ohne am Ende selbst Mönche zu werden. So stellen das monastische Stundengebet und das Kathedraloffizium eher zwei Gebetsordnungen dar, die dann zwischen dem 08. und 13. Jahrhundert unter dem maßgeblichen Einfluss des, die palästinensisch-monastischen Vorbilder aus dem Mar- Sabbas- Kloster bei Jerusalem aufgreifenden, Konstantinopolitaner Studion-Klosters zu einer neuen Synthese gebracht wurden, die die spirituell-liturgischen Anliegen des Mönchtums mit dem geistlich-liturgischen Erbe an den städtischen Kathedralen zu verbinden wusste. Ab dem 13. Jahrhundert hatte das orthodoxe Stundengebet dann seine heutige, uns bekannte Struktur angenommen.

 

In der orthodoxen Kirche ist das Stundengebet niemals zum Breviergebet der Kleriker und zum Offizium der Mönche wie in der lateinisch-römischen Kirche geworden, sondern es ist stets das Gebet der gesamten Kirche geblieben. Vor allem in den griechisch geprägten orthodoxen Kirchen ist ein gekürztes Stundenbuch bis heute ganz selbstverständlich das Gebetbuch der Laien geblieben.

 

Deshalb wird das Stundengebet als Aufstieg zum Höhepunkt aller orthodoxen Gottesdienste, der Feier der Göttlichen Liturgie auch in den Pfarrkirchen gebetet. Dabei wird die immer gleiche orthodoxe Gottesdienstordnung des klösterlichen Typikons der Kraft der Sänger und des Zelebranten, aber auch dem geistlichen Fassungs- und liturgischen Konzertationsvermögen der Gemeindemitglieder, sowie dem körperlichen Durchhaltevermögen aller angepasst. Den zu den Gläubigen in einer Pfarrgemeinde gehören im Gegensatz zu einer monastischen Gemeinschaft selbstverständlich auch Kinder. Aber grundsätzlich folgt das gesamte orthodoxe gottesdienstliche Leben in Gemeinde- und Klosterkirchen der gleichen Ordnung. 

 

 

In den orthodoxen Klöstern beginnt der Tageslauf am Abend bei Sonnenuntergang (vgl.: 1. Mose 1: 5). Deshalb ist der letzte Gottesdienst eines Tages die Non (Neunte Stunde) und der erste Gottesdienst ist die Vecernja (Hesperinos/Vesper). Damit beginnt der neue liturgische Tag bei Sonnenuntergang.

Die Bezeichnungen der einzelnen Gebetsstunden lauten:

·  Hesperinos (griechisch: σπερινός, russisch: Вечерня ): die Vecenja oder das Abendlob (Vesper) bei Sonnenuntergang

·       Apódipnon (griechisch: πόδειπνον = nach dem Essen“ russisch:  Повечерия ) Das kirchliche Nachtgebet vor dem Zubettgehen. 

· Mesonyktikon (griechisch: Μεσονυκτικόν, russisch: Полунощница): Das Mitternachtsgebet. Es wird in den Klöstern meist als erstes Gebet nach der Nachtruhe gesprochen.

·  Orthros (griechisch: ρθρος, russisch: Утрения): Die Utrenja oder das Morgenlob bei Sonnenaufgang.

·         Prōtē Hōra (griechisch: Πρώτη ρα, russisch: Первый час): Die erste Stunde (Prim), etwa um sechs Uhr morgens. Die erste Stunde ist dem Lobpreis Gottes als Schöpfer gewidmet und wird gewöhnlich direkt im Anschluss an den Orthros gebetet.

·     Tritē Hōra (griechisch: Τρίτη ρα, russisch: Третий час): Die dritte Stunde (Terz) um neun Uhr morgens. Die dritte Stunde ist dem Gedächtnis des Herabkommens des Heiligen Geistes an Pfingsten gewidmet (Der Heilige Geist kam zur dritten Stunde auf die Heiligen Apostel herab).

·    Hektē Hōra (griechisch: κτη ρα, russisch: Шестый час): Die sechste Stunde (Sext) ist das Mittagsgebet um 12.00 Uhr mittags. Sie  ist dem Gedächtnis an die Kreuzigung Christi, die zu dieser Stunde geschah gewidmet.

·         Enatē Hōra (griechisch: νάτη ρα, russisch: Девятый час): Die neunte Stunde (Non) um drei Uhr nachmittags. Sie ist dem Gedächtnis an den Tod Christi, der zu dieser Stunde eintrat gewidmet.

 

 

Während die Utrenja heute besonders stark vom Geist klösterlichen Betens geprägt ist und infolge der Komplexität der Variationsmöglichkeiten, die sich aus dem Heiligen- und Festkalender in Jahreslauf ergeben auch im gottesdienstlichen Vollzug der Anspruchsvollste der Stundengottesdienste ist, zeigt vor allem die Große Vesper besonders schön die byzantinisch-orthodoxe Synthese aus gemeindlichem und klösterlichen Beten, das das gesamte Stundengebet der orthodoxen Kirche bid heute prägt: Die sonntägliche Vesper (am Samstag Abend) besteht nach der Eröffnung aus einem ersten Teil in monastischer Tradition, an den sich eine Kathedralvesper mit Luzernar, den Abendpsalmen 140, 141, 129 und 116 und damit verbundener Weihrauchdarbringung, dem Einzug beim Gesang des Hymnus „Mildes Licht“ und den Lobpreis des greisen Symeon bei seiner Begegnung mit dem Herrn, das „Nun entlässt Du, o Herr, Deinen Diener in Frieden“ anschließen.

 

Anmerkung: Die Psalmen werden in diesem Artikel nach der Zählung der Septuaginta zitiert.

 

 

Das orthodoxe Stundengebet für Laien

 

Thomas Zmija v. Gojan

 

Viele fromme orthodoxe Christen in den griechisch geprägten Kirchen besuchen täglich den Hesperinos (Abendgottesdienst) und manche von ihnen sogar den Orthros (Morgengottesdienst) in ihrer Pfarrkirche. Auch im Kreis einer religiösen griechischen Familie werden Morgens und Abends Abschnitte aus dem orthodoxen Stundengebet gebetet, während sich in den orthodoxen Kirchen der russisch-slawischen Tradition für das Morgen- und Abendgebet eine besondere Gebetsregel mit Gebetstexten aus der Vätertradition eingebürgert hat. Das russisch-slawische Gebetbuch, das in seiner heutigen Zusammenstellung unter Moskauer Patriarchen Josif  in der Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden ist, wurde später auch von der rumänischen Kirche übernommen.

 

Jedoch ist der private Gebrauch des orthodoxen Stundenbuches (griechisch: ὡρολόγιον = „Horologion“ slawisch: Часocлoвъ = „Časoslov“) durch orthodoxe Laien nicht nur unter den griechischen Christen, sondern ebenfalls unter den in der russisch-slawischen Tradition beheimateten Gläubigen verbreitet. Vor allem im russischen Norden und an der Wolga war die orthodoxe Laienfrömmigkeit von je her eng mit den monastischen Vorbildern und dem klösterlichen Beten verbunden. In Russland entwickelte sich sogar ein eigener Typ kleiner Kirchlein, die Časovnija (часовня), die in ihrer Einrichtung in besonderer Weise auf das Stundengebet ausgerichtet ist. Denn im Gegensatz zur griechischen Paraklis besitzt die Časovnija keinen Altar für die Feier der göttlichen Liturgie, wohl aber einen Ikonostas. Gerade in Nordrussland, wo sich nicht in jeder Ortschaft auch eine orthodoxe Pfarrkirche befand, wurden diese Kapellen zu den örtlichen Zentren des religiösen Lebens. In diesen Časovnijas wurde das Stundengebet in der Regel jedoch nicht von einem Priester oder Priestermöch, sondern durch einen Leser oder andere des kirchlichen Gesangs und des Lesens der kirchenslawischen Gottesdienstbücher kundige Gläubige vollzogen.

 

Auch heutzutage ist es an Orten oder zu Zeiten, wo es keine Möglichkeit gibt, den kirchlichen Gottesdienst zu besuchen, fromme orthodoxe Praxis geblieben, dass die Gläubigen für sich privat, in der Familie oder auch in kleinen Gruppen das orthodoxe Stundengebet beten. Da aber bestimmte Teile des Stundengebetes (Segen, Ektenien & Ekphonesen) dem Priester bzw. dem Diakon vorbehalten sind, wird beim Vollzug des orthodoxen Stundengebetes durch Laien eine besondere Ordnung beachtet. Auch in den kleinen Skiten des Heiligen Berges Athos wird das Stundengebet nach den Grundregeln für diese "Lesergottesdienste" vollzogen, wenn in der Skite kein Priestermönch lebt.

 

 

Über das orthodoxe Stundengebet

 

Thomas Zmija v. Gojan

 

Von großer Bedeutung sind in der orthodoxen Kirche die Gebetsgottesdienste. Sie gliedern in ihrer liturgischen Abfolge den Tageslauf nicht nur in den Klöstern sondern auch in den Kirchengemeinden der Dörfer und Städte. Der liturgische Tag endet mit der Neunten Stunde und der darauf folgende neue Tag beginnt mit der Vecernja, dem kirchlichen Abendgebet (vgl.: 1. Mose 1: 5). Der orthodoxe liturgische Tag folgt der byzantischen Zeiteinteilung, die den Tageslauf nicht in vierundzwanzig, sondern in 12 Stunden gliedert. Die byzantinische Zeiteinteilung hat die in der Antike übliche Zeitbemessung vollständig übernommen, so dass sie den biblischen Zeitangaben, zum Beispiel bei der Passion Christi entspricht.

 

Der byzantinische Tag und das orthodoxe Stundengebet sind folgendermaßen gegliedert:

 

Abendstunde (bei Sonnenuntergang) - 17:00 bis 21:00 (je nach Jahreszeit) - Hesperinos/ Vecernja / Vesper (Abendgebet)

Nachtstunde - 21:00 bis 00:00 - Apodipnon  / Polunoschnitza/ Komplet 

Stunde der Mitternacht - 0.00 bis 03.00 Uhr - Mesonyptikon (Mitternachtsgebet)

Morgenstunde - 03:00 bis 06:00 Uhr - Orthros/ Utrenja/ Mette & Laudes

erste Stunde des Tages - 06:00 bis 09:00 Uhr - Erste Stunde (Prim = erste der kleinen Horen)

dritte Stunde des Tages -09:00 bis 12:00 Uhr - Dritte Stunde (Terz = zweite der kleinen Horen )

sechste Stunde des Tages - 12:00 bis 15:00 Uhr - Sechste Stunde (Sext = dritte der kleinen Horen)

neunte Stunde des Tages - 15:00 bis 18:00 Uhr - Neute Stunde (Non = vierte der kleinen Horen)

Hier endet der biblische und byzantinische Tag und der folgende Tag beginnt.

 

In der Praxis werden jedoch verschiedene Einzelabschnitte des orthodoxen Stundengebetes zu einem Gottesdienst zusammengezogen. Für das Abendgebet sind dies: Neunte Stunde, Vecernja und Komplet; für das Morgengebet Mitternachtsgebet, Utrenja und Erste Stunde (Prim). An Sonntagen und an hohen Festtagen werden Vecernja und Urenja mit der Ersten Stunde (Prim) als Nachtwache (griechisch: αγρυπνια, russisch: Всено́щное бде́ние) zu einem Gottesdienst zusammengefasst. 

 

 

Das orthodoxe Stundengebet bildet liturgisch die gesamte christliche Heilsökonomie ab. So ist die Erste Stunde dem Gedächtnis des göttlichen Schöpferhandelns, die Dritte Stunde der Erinnerung an die Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten, die Sechste Stunde dem Gedenken an die Kreuzigung des Herrn, die neunte Stunde dem Gedächtnis an den Tod Christi, die Vecernja an die Vorankündigung des kommenden Heiles durch das Alten Testament sowie die alttestamentliche Zeitspanne bis zur Fleischwerdung Christi gewidmet. Das Mitternachtsgebet wiederum steht für die Wartezeit bis zum Kommen Christi und der Morgengottesdienst, die Utrenja symbolisiert die Erfüllung der Zeit, das Anbrechen des Heiles durch das Kommen Christi (Evangelium (griechisch: εὐαγγέλιον) = Frohe Botschaft des Heiles).

 

Das gesamte orthodoxe Stundengebet bildet zusammen gleichsam die Stufen einer Treppe, die uns geistlich darauf vorbereitet, zur Feier der Göttlichen Liturgie emporzusteigen, in der dann die gesamte Heilsökonomie Christi für uns aktualisiert wird. Deshalb ist die Feier der Heiligen Liturgie Schlußstein und Krönung des Torbogens der Anbetung, den wir mit der Feier des Stundengebetes errichten, der uns dann in der Göttlichen Liturgie mit dem Empfang der Heiligen Kommunion zur personalen Begegnung mit Christus, dem menschgewordenen Gott und dem inkarnierten Göttlichen Heil hineinführt.

 

 

Der orthodoxe Fürbittgottesdienst

 

Thomas Zmija v. Gojan

 

Die Paraklesis (Παράκλησις) oder das Moleben (молебен) ist ein Trost- oder Fürbittgottesdienst der orthodoxen Kirche. Der Kanon, der mit oder ohne Akathistos-Hymnus gesungen werden kann, richtet sich an unseren Herrn und Erlöser Jesus Christus Selbst, an die Allheilige Gottesgebärerin oder einen bestimmten Heiligen mit der Bitte um Beistand und Fürbitte.

 

Vor allem in der griechischen Tradition ist der „Kleine  Trostkanon zur Allheiligen Gottesgebärerin“ (μικροσ παρακλητικοσ κανων στην υπεραγια θεοτοκο) der Bekannteste. Doch kennt sowohl die griechische wie die russische Tradition eine Vielzahl von Kanon-Hymnen, die jeweils in der Paraklesis und dem Moleben Verwendung finden.

 

Außer dem Kanon enthält dieser Gottesdienst bestimmte Psalmen (Psalm 51 & Psalm 142), Troparien, Stichieren und Fürbitten (Ektenien).

 

Diese „Kleine Parakisis“ kann zu allen Anlässen im Kirchenjahr gesungen werden. In den Gottesdienst der Praklesis, wie auch das slawische Moleben, kann ebenfalls eine Kleine Wasserweihe eingebunden sein.

 

Die orthodoxen Gläubigen besuchen entweder den Fürbittgottesdienst (Paraklesis/Moleben) in der Kirche oder bitten den Priester, den Fürbittgottesdienst und die Kleine Wasserweihe bei Ihnen zu Hause zu vollziehen, damit der Segen Gottes in die Familie und auf alle Mitglieder des Haushaltes herabkomme.

 

Vor allem im Krankheitsfall bitten die Orthodoxen gern den Priester ins Haus zum Erkrankten zu kommen, ihm zunächst die Heilige Beichte abzunehmen und die Heilige Kommunion zu reichen, und dann das heilige Ölsakrament (Krankensalbung) zu vollziehen. Darüber hinaus kennt die orthodoxe Kirche auch die Möglichkeit, den Fürbittgottesdienst am Bett des Kranken zu lesen, damit der Kranke göttlichen Trost empfange, Gottes Rettung erfahre und auf die Fürsprache der Allheiligen Gottesgebärerin und der übrigen Heiligen baldige Wiederherstellung seiner Gesundheit erlange.

 

Während die kleine Paraklesis, die vom Mönch Theosterictos im 9.Jahrhundert verfasst wurde, an jedem beliebigen Tag des Kirchenjahres gesungen werden kann, ist die Große Paraklisis (Μέγας Παρακλητικς Κανν τς Παναγίας), die im 13.Jahrhundert vom rhomäischen Kaiser Theodore II. Laskaris verfaßt wurde, dem Zeitraum des Marienfastens (1 - 14. August) vorbehalten. Das griechische Typikon legt fest, dass die Kleine und Große Praklesis in diesem Zeitraum (vor dem Fest des Entschlafens der Muttergottes) an den Abenden im Wechsel gesungen werden können. Jedoch entfällt die Praklesis am Vorabend der Sonntage (= Samstagabend) und am Vorfest von Christi Verklärung (= am Abend des 05. August).

 

Die Grundstruktur für den Fürbittgottesdienst folgt dem liturgischen Aufbau der Utrenja (Orthos). Deshalb sind die entsprechenden wechselnden Teile wie die Troparia, Stichieren, Prokimena und das entsprechende (Morgen-)Evangelium den Minäen dem Festtag oder dem Gedenktag des Heiligen entnommen.

 

Die russische Tradition kennt auch eine Vielzahl von Moleben zur Verehrung der heiligen wundertätigen Ikonen der Gottesmutter. Nicht nur bei Schwierigkeiten, bei einem Unglück oder in schwerer Krankheit, sondern auch beim Einzug in eine neue Wohnung, bei Beginn eines guten Werkes, zu Beginn des neuen Jahres, zum Schulbeginn der Kinder, wenn eine neue Arbeitsstelle angetreten wird, aus Dankbarkeit für eine empfangene Wohltat, vor dem Antritt einer Reise oder aus Frömmigkeit und zu Ehren eines bestimmten Heiligen: Zu diesen und vielen anderen Gelegenheiten erbitten die russischen Gläubigen in der Regel ein Moleben vom Priester.

 

Eine Besonderheit der russischen Tradition ist, dass im Moleben heutzutage der Kanon meist ausgelassen wird und nur noch die entsprechenden Refrain-Verse (Raspjew) gesungen werden. (z.B. „Allheilige Gottesgebärerin, rette uns!“ oder: „Heiliger Nikolaus, bitte zu Gott für uns!“) Während die Oden ausgelassen und nur noch die Refrain-Verse (oft für die Allheilige Dreieinheit, dann die Allheilige Gottesgebärerin und verschiedene Heilige) gesungen werden, werden die Kleinen Ektenien an der entsprechenden Stelle gebetet und teilweise werden auch noch die Irmoi der dritten, sechsten und neunten Ode gesungen.

 

Wird hingegen der gesamte Kanon gelesen, so spricht man in der russischen Tradition heute vom Molebnyj Kanon (молебный канон). Auch der längere Molebnyj Kanon wird zu Ehren des Erlösers, der Allheiligen Gottesgebärerin, eines Festtages, besonderen Heiligen oder Märtyrers gelesen. Nach der sechten Ode des Kanon kann ein entsprechender Akathistos eingefügt und das (Morgen-) Evangelium gelesen werden.

 

Weder die Paraklesis in den Kirchen der griechischen Tradition, noch das Moleben in den Kirchen der russisch-slawischen Tradition ist ein starres liturgisches Gefüge. Je nach Anlass und Situation kann es nach den jeweiligen Regeln der landeskirchlichen Lokaltradition vollständig oder in gekürzter Form gebetet werden.

 

Obwohl die Paraklesis oder das Moleben, wie alle orthodoxen Gottesdienste, in aller Regel durch einen Priester geleitet werden, kann diese Gebetsordnung auch zur persönlichen Andacht genutzt werden. Die orthodoxen Gläubigen finden die Ordnung der Paraklesis oder des Molebens als „Kleiner Trostkanon an die Allheilige Gottesgebärerin“ in ihren orthodoxen Gebetbüchern abgedruckt. So kann das Moleben auch privat oder in der Familie gebetet werden. Ist aber kein Priester zugegen, so werden alle priesterlichen Segen ersetzt durch: „Auf die Gebete unserer heiligen Väter, Herr Jesus Christus, unser Gott, erbarme Dich unser. Amen“. Die kleinen Ektenien werden ersetzt durch: „Herr, erbarme Dich.“ (dreimal) „Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Die inständige Ektenja wird ersetzt durch:  „Herr, erbarme Dich.“ (vierzigmal) „Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

 

Das Moleben besitzt in den Kirchen der russisch-slawischen Tradition eine besonders große Bedeutung. Im slawischen Großen Euchologion, dem Großen Trebnik (Требник Большой), ist den verschiedenen Moleben ein eigener Band gewidmet.

 

Normalerweise wird das Moleben vor der Ikone des entsprechenden Heiligen gelesen. In der Regel steht dann vor der Ikone ein Lesepult (Analoi) mit dem Evangelienbuch und dem priesterlichen Handkreuz. Außer in der Kirche kann das Moleben jedoch auch während einer Prozession oder auf einer Pilgerreise gesungen werden. Wird das Moleben bei einer Prozession rund um die Kirche gesungen, wie es zum Beispiel in der Lichten Woche (Osterwoche) üblich ist, so hält die Prozession an den vier Seiten der Kirche an und der Priester sprengt Weihwasser über die Gläubigen, die Kirchenfahnen, das Prozessionskreuz, und die mitgeführten Ikonen (bei der Prozession in der Lichten Woche wird an jeder Seite der Kirche vorher ein Auferstehungsevangelium gelesen).

 

Ein Moleben vor der Gottesmutter-Ikone "Wahrhaft Würdig".
Ein Moleben vor der Gottesmutter-Ikone "Wahrhaft Würdig".

 

Die Ordnung für das Moleben

im slawischen Trebnik:

 

-        Segen

-       Himmlischer König (meist gesungen) und Einleitungsgebete

-       Psalm 142

-       Gott ist der Herr… und Troparion des Heiligen

-       Psalm 50

-       Konon zum Heiligen

-       (In der heutigen Praxis der slawischen Kirchen wird der Kanon ausgelassen, die Stichieren des Kanon werden durch den jeweiligen Raspjew ersetzt. Katavasia nach der dritten und sechsen Ode).

-       Kleine Ektenja nach der dritten Ode gefolgt vom Sedalen des Heiligen

-       Kleine Ektenja nach der sechsten Ode gefolgt  vom Kontakion des Heiligen.

-       Dann kann ein Akathistos-Hymnus  eingefügt warden.

-       Prokeimenon

-       Evangelium

-       Stichieren

-       Große Bitten nach dem Morgenevangelium: "Rette, o Herr Dein Volk und segne Dein Erbe…“

-       Nach der Neunten Ode: “Wahrhaft würdig ist es Dich seligzupreisen…"

-       Stichieren zu den Lobpsalmen vom Heiligen

-       Trisagion und die übrigen Einleitungsgebete

-       Inständige Ektenja

-       Gebet zum Heiligen.

         Entlassung.

 

 

 

 

Die Evangeliumslesungen für das Moleben:

 

-        Für jeden Anlass: Matthäus 7:7-11

-        Allheilige Gottesgebärerin: Lukas 1:39-49,56

-        Für die Kranken: Matthäus8:5-13

-        Für die Engel: Lukas 10: 16-21 oder Matthäus 13:24-30, 36-43

-        Für einen Propheten: Matthäus 23: 29-39 oder Lukas 11 :47-12:1

-        Für einen Apostel:  Matthäus  9: 36 - 10:8

-        Für mehrere Apostel: Lukas 10:1-15 oder Lukas 10:16-21

-        Für einen heiligen Hierarchen: Johannes 1o:9-16

-        Für mehrere heilige Hierarchen:  Matthäus 5:14-19 oder Johannes 10:1-9

-        Für heilige Mönche und die Narren-in-Christo: Matthäus 11:27-30 oder Lukas 6:17-23

-        Für einen Märtyrer: Lukas 12:2-12 oder Johannes 15:17-16:2

-        Für mehrere Märtyrer: Matthäus 1o:16-22 oder Lukas 21: 12-19

-        Für einen Protomärtyrer: Lukas, 12:32-40

-        Für mehrere Protomärtyrer: Lukas 6:17-23 oder Lukas 10:22-24 oder Lukas 14:25-35

-        Für einen Märtyrer-Mönch: Markus , 8:34 - 9:1

-        Für mehrere Mönchs-Märtyrer: Matthäus 10:32 - 11:1 oder Lukas 12:8-12

-        Für eine Märtyrerin: Matthäus 15:21-28 oder  Markus 5:24 - 34).

-        Für eine heilige Monialin: Matthäus 25:1-13 oder Lukas 7:36-50

-        Für einen Bekenner: Lukas 12: 8-12

          Für die Uneigennützigen (Heilige Ärzte): Matthäus 9:36 - 10:8

 

 

Die kleine Wasserweihe

 

Thomas Zmija v. Gojan

 

Der christlich- orthodoxe Glaube und das geistlich-kirchliche Leben unserer Kirche ist nicht in erster Linie eine theoretische Lehre oder Überzeugung,  sondern die Begegnung der Gläubigen mit dem in Seiner Kirche durch die Mysterien (Sakramente) und die anderen gottesdienstlichen Segenshandlungen gegenwärtigen Herrn. Wir orthodoxen Christen erfahren Christus, als den für uns durch die Feier der Heilige Liturgie und übrigen Gottesdienste Lebendigen und Gegenwärtigen. Der orthodoxe Glaube wendet sich ganzheitlich an den das Heil suchenden Menschen. Er ist deshalb weder religiöse Weltanschauung oder Philosophie, weder Psychologie oder Moral, sondern das geistliche Leben des Menschen eingebettet in das sakramentale Leben der Heiligen Kirche. In dieser kirchlich-geistlichen Lebensform begegnet uns das Heil zunächst vermittels unserer körperlichen Sinne. Wir schauen die Heiligen Ikonen und das Leuchten der Kerzen, wir riechen den Weihrauch, wir bekreuzigen und verneigen uns; Wir empfangen die Heiligen Mysterien (Sakramente), deren innewohnende Göttliche Gnade uns durch den leiblichen Empfang dargereicht wird, damit dadurch unsere Seele und unseren Geist in der sakramentalen Begegnung mit Gott zur Theosis, zur gnadengewirkten Gemeinschaft mit Ihm verwandelt werden. Und wir werden mit heiligem Wasser und heiligem Öl gesegnet, das während der Gottesdienste über uns ausgesprengt oder mit dem wir gesalbt werden. So ist Christus der Auferstandene und zur Rechten Gottes des Vaters Erhöhte niemals fern von uns. Durch das Wirken des Heiligen Geistes erfüllt Er mit Seiner lebenschaffenden Gegenwart alle Vollzüge der Kirche, vor allem die Göttliche Liturgie und die übrigen Gottesdienste. Nach dem Zeugnis der Hebräerbriefes (Hebräer 6:5) werden wir durch die Teilnahme an den Heiligen Mysterien (Sakramenten) sowie den Segenshandlungen der Kirche bereits jetzt mit hinein genommen in das Eschaton, das kommende zukünftige Zeitalter (griechisch: αιών = Ewigkeit) der Herrschaft Christi, indem dann alles aufgehoben sein wird, was jetzt noch durch die Sünde entstellt ist (vgl.: John Zizioulas, Metropolit von Pergamon; Die Welt in eucharistischer Schau und der Mensch von heute, in: Una Sancta 25 (1970) 342-349). Diese Aufhebung dessen aber, was die Sünde verdunkelt und entstellt hat, bezeichnen wir Orthodoxen mit dem Ausdruck „Heilig“ (griechisch: γιος).

 

Das Gebet der „Kleinen Wasserweihe“ wird in der slawischen Sprache: Малое освящение воды und in der griechischen Sprache: Μικρός γιασμός genannt, was „Heiligung des Wassers“ bedeutet. Anders als die Große Wasserweihe die nur an Theophanie vollzogen wird,  kann die Kleine Wasserweihe beliebig oft im Kirchenjahr vorgenommen werden.

 

Metropolit Anastasios Yannoulatos, Erzbischof von Albanien bei einer Wasserweihe in Tirana.
Metropolit Anastasios Yannoulatos, Erzbischof von Albanien bei einer Wasserweihe in Tirana.

 

Die kleine Wasserweihe wird im Rahmen eines Molebens (Gebetsgottesdienstes) vollzogen wir bringen hier die Gebete und Gesänge die bei der eigentlichen Segnung des Wasser gesprochen und gesungen werden.

 

Der Priester spricht zur Segnung des kleinen Weihwassers dieses Gebet:

 

Herr unser Gott, Du Großer im Rate und Wunderbarer in den Werken, Urheber der ganzen sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung; Du bewahrst Deinen Bund und Dein Erbarmen für die, die Dich lieben und Deine Gebote halten; Du nimmst alle an, die Tränen der Reue vergießen; deshalb kommst Du uns zu Hilfe in Knechtsgestalt, nicht um uns wie ein Spuk in Schrecken zu versetzen, sondern zur Gesundheit, indem Du uns den wahren Leib reichst und sprichst: Sieh, du wirst gesund, sündige nicht länger. Aber Du hast auch mit feuchtem Staub Augen sehend gemacht und da Du befahlst ihn abzuwaschen, durch das Wort vorbereitet, dass das Licht darin wohne (Johannes 9: 6). Du beruhigst die Stürme der widrigen Leidenschaften und besänftigst das salzige Meer dieses Lebens und linderst die schmerzlichen Wellen der Leidenschaften. Du also, menschenliebender König, der Du uns das schneeweißstrahlende Kleid aus Wasser und Geist zu tragen gibst und durch den Anteil an diesem Wasser und die Besprengung uns Deinen Segen herabsendest, tilge die Befleckung durch die Leidenschaften.

 

Ja, Gebieter, wir flehen: Schau auf uns, Gütiger, in unserer Schwachheit und heile uns von den Krankheiten der Seele und des Leibes durch Deine Gnade; auf die Fürbitten unserer ganz makellosen Herrin und Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria; durch die Kraft des kostbaren und lebenspendenden Kreuzes; durch den Schutz der verehrten, himmlischen und körperlosen Mächte; auf die Fürbitten des ehrwürdigen, ruhmreichen Propheten und Vorläufers Johannes des Täufers, der heiligen ruhmreichen und allverehrten Apostel; unserer Väter unter den Heiligen die großen Hierarchen und ökumenischen Lehrer Basilius des Großen, Gregors des Theologen und Johannes Chrysostomos; der Väter unter den Heiligen Athanasius und Kyrill und Johannes des Erbarmers, der Patriarchen von Alexandria; des Nikolaus Bischofs von Myra in Lykien und Spiridon Bischofs von Trimythous, der Wundertäter; der heiligen und verehrten Großmartyrer: Georgs des Siegeszeichenträgers, Demitrius des Myronfließenden, Theodor Tiron und Theodor des Feldherrn; der heiligen und verehrten Erzmartyrer Charalampos und Eleutherios, der heiligen verehrten und siegreichen Martyrer; der heiligen und gerechten Gottesahnen Joachim und Anna; der heiligen verehrten Wundertäter, der uneigennützigen Kosmas und Damian, Kyrus und Johannes, Panteleimon und Hermolaos, Sampson und Diomedes, Mokios und Aniketas, Thallalaios und Tryphon; des (der) Heiligen (des Tages), dessen (deren) Gedächtnis wir heute begehen, und aller Deiner Heiligen....

 

Neigen wir unser Haupt vor dem Herrn.

 

Der Priester liest gebeugt und still dieses Gebet:

 

Neige, Herr, Dein Ohr und erhöre uns, der du Dich herabließest im  Jordan getauft zu werden und die Wasser geheiligt hast; segne uns alle,die wir durch das Beugen unseres Nackens den Stand des Dieners zeigen. Und mache uns würdig, dass wir mit Deiner Heiligung erfüllt werden durch den Genuss des Wassers und die Besprengung mit ihm; es gereiche uns, o Herr, zur Gesundheit der Seele und des Leibes.

 

Laut:

 

Denn Du bist unsere Heiligung und Dir senden wir Lobpreis, Dank und Anbetung empor, samt Deinem anfanglosen Vater und Deinem  allheiligen und gütigen und lebenschaffenden Geist, jetzt und allezeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

 

Hierauf nimmt er das ehrwürdige Kreuz,

segnet das Wasser dreimal mit dem Kreuz und singt im 1. Ton:

 

Errette, Herr, * Dein Volk und segne Dein Erbe * Siege schenke Deinen Frommen über Ihre Widersacher  * und behüte durch Dein Kreuz  * die Dir eigene Gemeinde.

 

Hierauf singt er, während er Wasser in Kreuzesform versprengt, folgendes Troparion:

 

Deiner Gaben mach’ uns würdig, Gottesgebärerin und Jungfrau, die du unsere Verfehlungen nachsiehst und denen Heilsmittel gewährst, die voll Glauben deine Wohltaten empfangen, Makellose

.

Hierauf küsst der Priester das ehrwürdige Kreuz, ebenso alles Volk. Dann besprengt er das ganze Volk, die Kirche (oder das Haus) mit dem Weihwasser.

 

Der Priester oder der Diakon singen

während des Besprengens das folgende Troparion im 4. Ton:

 

Eine Quelle der Heilungen habt ihr, heilige Uneigennützige, die Heilungen gewährt ihr allen, die darum bitten, als der größten Gaben Würdige, aus der nie versiegenden Quelle des Retters Christus. Der Herr sprach zu euch, die ihr so eifrig seid wie die Apostel: Seht, ich habe euch Macht gegeben über die unreinen Geister sie auszutreiben und zu heilen alle Krankheiten und Gebrechen. Deshalb führt ihr dieses Gebot rechtschaffen aus: umsonst habt ihr erhalten, umsonst sollt ihr geben, die ihr heilt die Leiden unserer Seelen und Leiber.

 

Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist jetzt und allezeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

 

Theotokion

 

Denen, die dich im Gebet anflehen, zeige, Allreine, dass du den Aufstand unserer Schrecken beendest, uns von aller Trübsal befreist; dich haben wir als einzigen sicheren und wahren Anker und haben deinen Schutz erlangt; lass uns nicht zuschanden werden, Gebieterin, die wir um Hilfe rufen. Eile auf das Flehen derer, die dir voll Glauben zurufen: Sei gegrüßt, Gebieterin, du Aller Hilfe, Freude, Schutz und Heil unserer Seelen....

 

 

 

Durch das Gebet der Kirche haben die gesegneten Dinge (Heiliges Öl, Weihwasser, Prosphore etc.) zwar eine objektive heiligende Wirksamkeit, doch diese heiligmachende und schützende Kraft wird nicht magisch aktiv, sondern nur durch den andächtigen und frommen Gebrauch, also durch die fromme Mitwirkung des Empfängers. Die gesegneten und geheiligten Dinge sind ein Zeichen der neuen, alles verändernden Wirklichkeit, die durch das Wirken des Heiligen Geistes im gottesdienstlichen Handeln der Heiligen Kirche gegenwärtig ist. Was uns äußerlich als reine »Materie« erscheint, ist durch das Gebet der Kirche schon längst in die neue Schöpfung in Christus mit hinein genommen worden. So nimmt die Kirche, indem sie die Dinge der Schöpfung segnet und damit heiligt die kommende Verherrlichung der Schöpfung, die jetzt noch durch die Folge der Sünde verdunkelt ist, voraus und gibt damit allen geschaffenen Dingen jene wahre und echte Gestalt wieder, die sie nach dem Schöpfungswillen Gottes haben sollen. So stellt die orthodoxe Kirche im Gebet die geschaffenen Dinge wieder in den Zusammenhang der ursprünglichen gottgewollten Schöpfungsordnung. Damit werden durch den frommen und kirchlichen Gebrauch die gesegneten Dinge der Kirche für uns zu Hilfsmitteln auf dem Weg zu einer tieferen Erkenntnis des Gnadenreichtums Gottes in dieser Welt.

 

 

Wie bereits gesagt, kann die Kleine Wasserweihe zu verschiedenen Gelegenheiten stattfinden, zum Beispiel am Tag des Namen- oder Familienpatrons. Traditionell hat es sich eingebürgert, die Kleine Wasserweihe in der vorösterlichen Zeit zu Hause durchzuführen. Aber noch zu vielen zu anderen Gelegenheiten kann der Priester die Kleine Wasserweihe vornehmen. In anschluss an die Kleine Wasserweihe bewahren wir das Weihwasser auf und benutzt es für häusliche Segnungen z. B. der Lebensmittel. Ebenfalls nehmen die Gläubigen Morgens etwas vom geweihten Wasser zusammen mit einem Stückchen der Prosphore zu sich, die sie am vorhergehenden Sonntag in der Kirche erhalten haben zu sich.

 

 

Die Kleine Wasserweihe vor Ostern hat den Sinn, dass wir den größten christlichen Feiertag in einem gesegneten Haus feiern können. Überhaupt versteht wir Orthodoxen die Familie und ihr Haus als eine »kleine Kirche«. Die Ikonenecke ist als der Ort des Gebetes der geistliche Altar und damit das Zentrum eines jeden orthodoxen Hauses. Dort hängt die Ikonen der Familie vor denen in einer Lampada das Ewige Licht brennt. Die heiligen Ikonen und das Licht der Lampada erinnern uns daran, dass Gott immer in unserem Leben anwesend ist. 

 

 

Vor den Heiligen Ikonen trifft sich die Familie am Morgen und am Abend, um gemeinsam die Gebete zu sprechen. Und hier wird auch der Bittgottesdienst (Moleben) der Kleinen Wasserweihe gesungen. Der Priester und die Familie sprechen und singen im Wechsel die ersten Wechselgesänge und Psalmen. Dann spricht der Priester die Gebete der kleinen Wasserweihe. In eine Schale mit dem Wasser taucht er unter dem dreimaligen Singen des Kreuztopars das Handkreuz ein. Anschließend werden weiter Troparien gesungen, während der Priester die Anwesenden und alle Räume des Hauses mit dem Weihwasser besprengt. In der griechischen Tradition benutzt der Priester dafür ein kleines Bund aus Basilikumszweigen, um damit den Schutz und die heilende Kraft Gottes auszudrücken, die durch den gläubigen Gebrauch des heiligen Wasser (russisch: Святая вода, освящённая вода oder auch агиасма, griechisch: Αγίασμαnun in das orthodoxe Heim einzieht.  So wird das ganze Haus durch die Segnung zu einem heiligen Ort. Bei der kleinen Wasserweihe wird das ganze Haus innen und außen mit Weihwasser besprengt, aber auch die Eingangspforte und die anderen Türen und ebenso die Tiere. In die Wandungen der Türen zeichnet der Priester mit einer brennenden Kreuze das Bild des heiligen Kreuzes. Ebenso zeichnet der Priester Kreuze mit heiligem Öl auf die Wände, zum Schutz vor allen geistlichen Feinden. Danach beräuchert er das ganze Haus mit Weihrauch. Abschließend folgt die inständige Ektenija, in der der Priester für alle Anwesenden und Familienmitglieder namentlich betet, die „hier wohnen und fromm in diesem Hause leben“. Damit erbittet der Priester die Herabkunft des Heiligen Geistes zur Heiligung und Errettung aller Hausbewohner. Am Ende der Haussegnung küssen alle Anwesenden das heilige Kreuz.